Nun ist auf der Sonne Licht das Element; gibt es daher Sonnengeschöpfe (und wer wird diesen den höheren Rang über den Erdgeschöpfen streitig machen, da sie Kinder des Weltkörpers sind, der herrschend in der Mitte der anderen steht), was werden sie denn anders sein können, als selbständig gewordene Augen?
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Da nun also meine Geschöpfe, nachdem sie Engel, Augen, Planeten gewesen sind, zuletzt sich in Dunstblasen verwandelt haben, die, wie ich jetzt bemerke, bloß durch die Anstrengung meines Auges beim Sehen in die Sonne in der wäßrigen Feuchtigkeit meiner eigenen Augenkammer entstanden, und mir nur den optischen Schein erregten, ich sehe sie objektiv, und da dieselben soeben zerplatzt sind, so sehe ich hiermit den Faden meiner Beobachtungen plötzlich abgerissen.
(G. T. Fechner, 1801-1887, Anatomie der Engel)
"Der Stern, mit dem wir leben, unser guter Mond, will ein großes Auge haben - und wenns möglich wäre - schließlich ein großes Auge sein - bloß noch ein einziges Auge sein - ganz Auge sein."
(Paul Scheerbart, 1863-1915, Die große Revolution, 1902)
Manche Erkentnisse lassen sich in einem Satz zusammenfassen.
Manchmal auch auf die wenigen Buchstaben einer Formel. Dadurch werden sie weder falsch, noch werden sie weniger Erkenntnis. Sie werden schlicht kürzer. Bis zur Kugel, sie werden quasi ein Atom, das gleichzeitig das Auge der Wahrnehmung sein könnte. Das Motiv des Auges um 1900 geht einher mit dem langsamen Verschwinden der Materie, der Entdeckung einer Welt aus Licht, Elektrizität, Magnetismus, Radioaktivität etc. Immaterielle Kräfte, die teilweise nicht mal mehr der Wahrnehmung unterliegen, aber eine rätselhafte Wirkung auf uns haben. Und die Phantasie machte sie nutzbar für Luftschiffe, Übertragungen von Stimmen und Bildern über weite Entfernungen, der Lieferung erfahrbarer Wirklichkeit.(vgl. Christoph Asendorf, Ströme und Strahlen).
Herr Schildkröt schenkte mir eine weitere Tasse Tee ein und sah mich mit einem lässig gespielten Lächeln um die Mundwinkel an. "Diese Pille macht sie groß, diese aber macht sie klein. Welche wählen Sie? Wenn Sie Auserwählt sein wollen müssen sie erst wählen. Nur die Menschen ohne Wahl sind nicht Auserwählt." Ich nahm einen Schluck und nickte. "Ja, sie haben wohl recht damit, Herr Schildkröt. So habe ich das noch nie betrachtet. Earl Grey." Ich hab hier einen Brief an meine Freundin: Er beginnt mit: "Meine liebe Freundin, ich werde Dich nie vergessen." Ob ich wohl auch diesen Brief nie vergessen werde?" Er kniff die Augen zu, so daß nur ein winziges Stück Pupille zu sehen war.
"Sie glauben also an Feen?" fragte ich ihn. "Ja, sicher." "Sie glauben also, daß Lewis Carrol wirklich Feen gesehen hat." "Natürlich, er hat sie sogar photographiert." "Herr Schildkröt, das sind kleine Mädchen, keine Feen." "Woher wollen sie das wissen?" "Ist es für einen Menschen von Vorteil, geboren zu sein? Sehen Sie. Solange wir eine Kugel sind, sind wir glücklich. Und vielleicht werden wir wieder eine Kugel." "Gebäck?" "Danke."
Das Motiv der Kugel, des Auges, des Planeten wie bei Fechner taucht in einem weiteren Werk des 20. Jahrhunderts auf, 2001, Odyssee im Weltraum. Im Gegensatz zum bewußt kryptisch gehaltenen Film plaudert das Buch von Arthur C. Clark die zugrundeliegende These offen aus: Für jeden Menschen, der stirbt, wird ein Planet geboren. Es gehört zu den großen Skurilitäten, die uns ein offensichtlich sehr dem Makabren zugewandter Weltenlenker schenkte, daß an dem Tag, als Douglas Adams einem Herzschlag beim Fitnesstraining erlag, ein Planet nach seinem literarischen alter ego Arthur Dent benannt wurde. In der letzten Szene des Films 2001 sieht man zum Schluß einen menschlichen Embryo als Planeten entstehen. Damit schließt sich der Kreis zu Fechner, der Anatomie der Engel. Nach dem Tode werden wir zu Engeln, da Engel kugelförmig sind, sind sie Planeten, und Planeten streben danach, Augen zu werden. Die Wurzeln dieses Denkens finden wir schon bei Fechner.
"Ich hab Ihnen das soeben bewiesen." "Sie haben nur bewiesen, daß man alles beweisen kann." "Das ist dasselbe." "Nein, wenn alles beweisbar ist, ist auch nichts beweisbar." "Wenn Sie mir das beweisen können, will ich das glauben, aber wenn Sie beweisen können, daß nichts beweisbar ist, ist der Beweis nichts wert." "Herr Schildkröt, würden Sie mir bitte noch einen Schluck nachschenken?" "Bitte." "Danke."
Letzter Versuch, die Teile zu einem Ganzen zu verbinden.
Manchmal ist eine Erkenntnis nur ein Gefühl, und es fehlt der Satz, die Formel dazu. Was ist die Verbindung zwischen Paul Scheerbart, Gustav Theodor Fechner, Lewis Caroll, Douglas Adams, Stanley Kubrick, Arthur C. Clark und Herrn Schildkröt? Daß sie ausgewählt haben. Zwischen der Wahrnehmung, wie sie für uns ausgewählt wurde, und der Wahrnehmung, für die wir uns entscheiden müssen. Eine Pille macht sie klein: Die Planeten sind staubige Steine, die sich umkreisen. Die andere Pille macht sie groß, zu Engeln und Augen. Hauptsache wir können wählen, welche Pille wir nehmen wollen.