Eine Irregularität in der Matrix

Es ist kein Geheimnis, daß die meisten Menschen ihren Tag damit beginnen, aufzustehen. Manchmal passiert es, daß man dann ohne erkennbaren Grund einen Tag anfängt, der sich seltsam verschoben anfühlt. Der so tut, als wäre er gar nicht wirklich. Vor allem im Sommer, der einen eigenen, anderen Herzschlag hat. Alles wird langsamer, als würde das Licht selbst träge werden. Aber ich möchte jetzt fast zusammenhanglos von einem kleinen Ritual erzählen, das sich von außen so seltsam anfühlt wie jedes andere Ritual. Ich kenne jemanden, der hält sich an einer Schrift fest und sagt, er kann nur mit dieser seine Texte tippen. Es ist die wunderbar antiquierte, weich wirkende Garamond. Ich habe dann versucht, meine Texte auch in Garamond zu schreiben. Ob sie dadurch besser werden, bezweifle ich aber. In letzter Zeit wechsel ich auch häufig zur Courier, die mir jedes Gefühl herauszustreichen scheint. Aber ob das wirklich hilft ist mir eigentlich egal, es sind diese kleinen Regeln an sich, mit der ich versuche zu verhindern, daß die Welt langsam zu gleiten anfängt, und ich mit dahin gleite. Da, wo die Tage hingehen, die sich so seltsam unreal anfühlen. Jeder Tag ist schon wieder die Aufgabe, zu überleben und sich wieder zurechtzufinden. Auch mit einiger Übung ist das immer noch nicht einfach, es wird sogar schwieriger.

Aber ich habe einen Raum entdeckt, in dem alles anders ist. Der außerhalb der Welt liegt, wie wir sie mit zahllosen scheinbar unverrückbaren Naturgesetzen akzeptiert zu haben scheinen - oder wenigstens tolerieren. In diesem Raum geschieht etwas, das uns fremd und eigenartig vorkommt. Es geschieht wirklich, nur glauben wir es nicht. Dieser Raum ist der Platz in und um eine Klinik, den psychiatrischen Anstalten. Meistens eine Zuflucht, beginnt dort für Menschen wie Angestellte allmählich alles etwas zu verrutschen. Ein Tag im Park, und es regnet Harz, Gerüche tauchen auf und verschwinden wieder, ohne daß es eine Quelle für sie gibt. Ich bin davon überzeugt, daß diese seltsamen Dinge tatsächlich geschehen. Und zwar deswegen, weil die zusammengefaßte andere Sicht auf die Wirklichkeit die Wirklichkeit an sich verändert.

In Animatrix, der Sammlung von kleinen Episoden zum Film Matrix, gibt es eine besonders beeindruckende Episode, "Beyond", in der es ein altes Haus gibt, in dem die Schwerkraft aufgehoben ist. Und in der man sogar die Zeit wie ein Tonband vor- und zurückspulen kann. Spielende Kinder, ein Regenbogen im Wohnzimmer, aus einer Feder wird eine Taube, alles ist etwas entrückt und träumend. Ich habe dieses Haus also tatsächlich in der gelebten Welt gefunden. Wenn das Gefüge, in dem wir sind, nicht so stark wäre, könnte man dort vielleicht auch all das aus der Filmepisode tun: die Schwerkraft aufheben, Zeit vor- und zurückspulen. In der Psychiatrie, wie auch etwas sanfter im Film, spürt man, wie die im sonstigen Leben übliche Konditionierung und Determination anfängt weich zu werden. Es liegt nah, nun alte Schemata wie Gott und Zen zu bemühen, um eine geistige Einstellung festzusetzen. Religion war mal eine gute Möglichkeit, der biologischen Determination des Naturgesetzes eine geistige zur Seite zu stellen, die den Rest erklärt. Katholizismus ist wie in Garamond zu schreiben. Inzwischen haben wir die Kirche gegen den Kinosaal getauscht, Filme erklären uns die Welt und werden Bezugspunkt, der Soundtrack ersetzt die donnernde Orgel, und spätestens bei den Special Effects stellt sich eine Art Ehrfurcht ein. Nie wird Gott in seinen Wundern deutlicher als im überzeugenden Special Effect. Von da ist es nur ein kleiner Sprung zur Selbstbezüglichkeit eines Films wie Matrix Reloaded. Auch wenn wir unbestimmt einen Tabubruch merken, wenn Morpheus selbst Technopartygott werden will, anstatt zu sein. Wenn uns doch der Film Matrix über die eigene Matrix aufklären wollte, wäre es konsequent, durch den Tabubruch offenzulegen, wie unhaltbar die Annahme einer gesicherten Wirklichkeit ist. Aber wir wollen doch glauben. Ans Kino, an den Gott der Geschichte, an die Erzählung, und daß es Regeln gibt, um so zu erzählen, daß wir auch andere glauben lassen können.

Wir wissen noch viel zu wenig darüber, wie unsere Wahrnehmung auf die Realität wirkt. Und wenn ich für einen Tag in der Psychiatrie bin, spüre ich die Angst in mir, daß dieser Einfluß viel größer sein könnte, als wir allgemein annehmen - es könnte sich der Boden öffnen und wir würden endlos fallen, wie Alice im Wunderland, um dann auf einem Tisch die Pillen zu finden und die Wahl zu haben: "mach mich größer" oder "mach mich kleiner". Die meisten von uns haben sich entschieden, so zu bleiben wie sie sind, und daß möglichst alles andere auch so bleibt. Aber wenn man einmal durch diesen Spalt gerutscht ist, durch die Sicherheit eines Films wie Matrix hindurch, dann ist plötzlich alles unumkehrbar ganz, ganz anders. Und man beginnt zu ahnen, daß man Texte doch lieber in Garamond schreiben sollte. Oder Courier. Denn die Regeln, wie die Welt funktioniert, machen wir uns selbst. Glauben Sie mir.