dropping knowledge

Im Schatten des 11. Septembers blüht auf dem dem Vorplatz der Humboldt Universität die Hoffnung auf eine neue Zukunft. Hier, wo einst die Nazis in kürzester Zeit das Wissen der Menschheit dezimierten, wird genau das Gegenteil mit modernster Technologie ermöglicht. Einhundert Menschen aus der gesamten Welt stellen sich 100 Fragen die wiederum selbst auf der ganzen Welt gesammelt wurden. Es ist der größte Runde Tisch der Welt - und mit ihm eine faszinierende Infrastruktur errichtet worden. Ich versuche die Idee einmal zu skizzieren: an einem Ort, zu einer Zeit sitzt ein mehr oder weniger repräsentativer Querschnitt der Menschheit um einem runden Tisch. Vor jedem Teilnehmer ist eine Videokamera und ein Mikrofon aufgebaut. Die einhundert Teilnehmer haben dann jeweils ca. drei Minuten Zeit auf eine Frage zu antworten - und hier liegt das besondere an diesem runden Tisch. Die Teilnehmer antworten alle gleichzeitig. Es gibt keinen Dialog. Es gibt keine Interaktion. Es gibt kein Feedback. Alle Antworten werden aufgezeichnet (und ergeben ca. 4 Terrabyte) und können später in aller Ruhe und unter unterschiedlichen Aspekten im Internet betrachtet werden.

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Vor drei Jahren gründeten Ralf Schmerberg, Cindy Gantz und Jackie Wallace das Projekt dropping knowledge in Berlin und San Francisco. Das Projekt hat inzwischen ein Finanzvolumen von rund 5 Millionen Euro und ist, wie die meisten derartigen Projekte, aus Spenden finanziert. Auch Apple-Macintosh-Computer in dieser einmaligen Installation (es sind über einhundert miniMacs) wurden jedoch ganz herkömmlich im Handel erworben und nicht etwa von Apple gestiftet.

In den vergangenen zwei Jahren wurden auf der Webseite über 20.000 Fragen gesammelt, gesichtet, kategorisiert und zum Teil durch eine eigens für dropping knowledge entwickelte Software gewichtet. Die 100 „wichtigsten” Fragen werden heute auf diesem Platz gestellt - und beantwortet. Die Antworten fließen in ein Forum ein und können dort durch den fortwährenden Dialog als „lebendige Bibliothek” existieren. Ob dropping knowledge wirklich tiefer schürft als die Wikipedia wird sich zeigen. Es ist jedenfalls das engagierte Ziel mit dem Projekt die übernächste Version des Internets einzuleiten. Der wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), Dr. Hans Uszkoreit, hat mit seinen Kollegen aus Saarbrücken die Software programmiert, welche schon die gesammelten Fragen kategorisiert hat und mit den 11.200 Meinungen dazu Antworten finden will.

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„Sie sprechen zu mehr Menschen, als es ihnen vielleicht Bewusst ist.” verkündet Willem Dafoe und verließt daraufhin eine weitere Frage. Die Teilnehmer dieses runden Tisches sitzen auf hölzernen Stühlen, haben ein dünnes Kissen für den Po, königsblaue Deckchen für den Rücken und einen Krug voll Wasser für die Stimmen. Genauso individuell wie wie die Teilnehmer sind auch die Holzstühle auf denen sie sitzen - und die erwarteten Antworten sollen nicht minder vielfältig ausfallen …

Es heißt: „Kunst ist die Wirklichkeit, gebrochen durch ein Temperament” - leider gibt es keine keine vergleichbare Aussage zur Frage, was Wahrheit ist. Doch genau hier setzt die Idee hinter diesem Experiment an - und die Frage von Janina Springer (22 aus Berlin) passt wie die Faust auf‘s Auge: „How objectiv ist sience”. Kaum das die Frage verklungen ist, beginnen all die Teilnehmer in hitzigem Monolog in die Mikrofone und Kameras zu reden. Zum Teil wird auch begonnen energisch zu gestikulieren und für alle Beobachter bleibt unbekannt, wie die Antwort - pardon - die Antworten auch immer lauten werden. Wieder dringt der technische Aspekt in meinen Fokus - wie schon beschrieben werden alle Antworten in Wort und Bild aufgezeichnet und können später ausgewertet werden.

Und wie Objektiv kann diese Auswertung sein? Wie objektiv kann solch eine Auswertung sein? Es können nicht alle Antworten gleichzeitig »gehör” finden - und so wird jeder Suchende wohl nur die Antworten auf zu seiner Recherche heranziehen, die seinem Temperament am ehesten entsprechen wird. Eventuell bleiben auch die Stimmen ungehört, deren Sprache der Suchende nicht spricht. Kann mann unter diesen Umständen aus dem Stimmengewirr aller gleichzeitig gegebenen Antworten sogar etwas über sich selbst erfahren? Mir fällt der Party-Effekt ein: eine Party mit 112 Menschen die sich in freier ungezwungener weise in kleinen Grüppchen miteinander unterhalten erzeugen ein ähnliches undurchdringliches Gemurmel - doch kann man aus all den Leiten auch eine Entfernte Stimme heraushören - mann denkt gerade an seine Frau und hört diese ganz deutlich unter den vielen Stimmen heraus und das obwohl sie ganz am anderen Ende des Raumes steht und und mit ganz anderen Menschen redet?! Genauso selektiv wir dieses Archiv der Antworten wohl auch angehört werden …

Hier soll das semantische Web helfen. Es soll die Antworten „erkennen” und weitere im Forum gestellte Fragen automatisch mit anderen Fragen verknüpfen können, inhaltlich ähnliche Antworten finden und vielleicht sogar selbst eine Antwort liefern können, indem es die Frage mit anderen bekannten Fragen in Korrelation setzt und aufgrund der Antworten zu den korrespondierenden Fragen selbst eine Antwort finden kann. Das Zusammenspiel von Technologie und Philosophie erinnert mich irgendwie an das Glasperlenspiel von Hesse - hoffen wir, das dieses Experiment nicht genauso mysteriös endet um letztlich von Historienforschern wieder aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und ausgegraben werden zu müssen …

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Während im Inneren des Runden Tischen, die Techniker, Helfer, Reporter, und Veranstalter sich um den Background kümmern, die Technik überwachen und die Fragen stellen, werden sie vom Ring der Antwortenden umgeben. Diese sitzen gebannt auf ihren Stühlen und geben all ihre Antworten zügig und zum Teil sehr energisch zu Protokoll - um diese Rige prominenter Vertreter der Menschheit herum sitzen wir - auch ich - und wir nehmen fasziniert diese Atmosphäre auf. Es fehlen jedoch die Antworten. Aus Gemurmel der verschiedenen unbekannten Stimmen, welche auch in verschiedenen Sprachen ertönen, kann der Beobachter keinen Denkansatz entnehmen. Es fehlt ein „Monitor” - ein Ausschnitt aus der Menge der Antworten. Zwar werden einzelne Teilnehmer immer wieder gesondert von Kameras aufgenommen aber leider werden nicht einmal diese selektierten Antworten nicht an das Publikum vor Ort weitergegeben …

Aber nicht nur dieses Problem stellte sich als meta-Frage dem Besucher. Durch die fehlende Ablenkung kam schnell die Frage nach der Nachhaltigkeit des Projektes selbst auf. Die dort versammelten Teilnehmer (vom Umwelt-Aktivisten über den chinesischen Dissidenten bis hin zur Pop-Star-Ex-Frau war ein bunter Mix versammelt) zeichnen sich nicht direkt durch Expertenwissen aus und reden wie autistisch in ihre Kamera und beantworten Fragen wie „Welche Religion hat Gott” in nur drei Minuten. Dies sind Fragen, an deren Lösung andere Menschen und zwar nicht allein, nein: ganze Heerscharen von ihnen ihr ganzes Leben knobeln …

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Viele der Teilnehmer schirmen sich selbst durch Ohrenstöpsel von ihren Nachbarn ab. Sie wollen sich in ihrer Aussage nicht durch die Aussagen des Nachbarn durcheinander bringen lassen - sie grenzen sich ganz bewusst ab - um eine eigene Meinung postulieren zu können - es geht eben nicht um Dialog sondern nur um die eigene Meinung just zu diesem Zeitpunkt.

Eventuell ist es auch wichtig hier die Grenze zu ziehen und eben nicht zu viel von dem kommenden Webauftritt zu erwarten. Wie schon erwähnt wird das semantische Web postuliert, werden Ontologien prophezeit und neue künstliche Intelligenzen - und im gleichen Atemzug wird jedoch vergessen, das wieder nur ein Mensch vor der Maschine sitzen wird.

Es ist eine gigantische Wörterblase geredet worden und viele Meinungen sind von quasi x-beliebigen Menschen postuliert worden. Doch steht ernsthaft zu befürchten, das auch diese Medienblase beim platzen nicht das Internet-Meer erschüttern wird. Es wird keine Flut neuer Ideen und richtungweisender Erfindungen geben und selbst Fragen wie „was können wir von Afrika lernen?” oder viel mehr die Antworten darauf, werden genauso belanglos in der neuen Datenbank vor sich hin dümpeln, wie sie auch jetzt schon auf diversen Webseiten ungelesen sprießen.

Der Mensch nutzt das, was abfällig als WEB1.0 bezeichnet wird, jetzt wo einige Medien den Begriff WEB2.0 künstlich hochspielen, noch gar nicht voll - nicht einmal zur hälfte voll aus. Noch ist das Internet doch ein gesetzloser Moloch in dem es auch keine absolute Wahrheit gibt.

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Mit der einhundertersten Frage „Whats your Question?” endete der Fragen-Marathon und weit mehr als 100.000 Antworten wurden digital aufgezeichnet und sollen so - in der vergänglichsten aller Aufzeichnungsformen der Menschheitsgeschichte der Nachwelt erhalten bleiben. Doch die unfassbar ausgefeilte Technik stieß schon währen dieses Evexperiments (könnte ein neues Modewort, zusammengesetz aus Event und Experiment werden) ließ den treuen VR-Bummler im Regen stehen. Der Internet-Livestream brach trotz h.262-Kompression unter der Menge virtueller Schaulustiger zusammen.

Doch es liegt trotz all dieser Technik an uns Menschen diese Gedanken zu erfassen und etwas daraus zu machen - zu lernen, etwas zu verbessern oder etwas anderes gänzlich neu zu erschaffen. Weder dropping knowledge als Event noch als Webseite wird die Welt verbessern, sondern wir Menschen werden es sein - und sein müssen.

Es gibt unendlich viele Fragen, die für jeden einzelnen Erdenbürger einen anderen Stellenwert haben und auf die jeder Mensch für sich eine Antwort finden muss. Ob eine Datenbank, wie die in diesem Experiment angestrebte, einen Zugang zu anderen Sichtweisen schaffen kann, ist zweifelhaft. Zwar klingt die schiere Masse von annähernd 4 Terrabyte an Daten, von 1.080 Stunden Video und Ton, von 112.000 Meinungen zu den 100 dängensten Fragen der Weltgeschichte verlockend viel - aber selbst diese enorme Menge scheint ein Tropfen auf den heißen Stein zu sein, denn von den Antwortenden wird kein Dialog ausgehen und so wird ein Nachfragen „wie haben sie das gemeint?” ungehört verhallen …

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Wenn das Netz von Übermorgen das Licht der Welt erblickt, wird auch Angel & Vampires seinen Teil für eine gute Kinderstube dazu beigetragen haben. Damit das Experiment Zukunft funktioniert ist jedoch noch weit mehr notwendig als ausgefeilte Technik und gigantische Datenmengen: Menschen, die das Netz aktiv und bewusst nutzen und nicht wie die Couchpotatos der heutigen Medienlandschaft nur träge konsumieren …