Bibliothek des Wesentlichen

Manche messen eine Bibliothek an ihrer Größe. Bedingt durch meine häufigen Reisen gewöhnte ich es mir bald an, die Zahl meiner Bücher zu beschränken und Werke, die mir nicht gefielen, gleich wieder abzustoßen. Aber an einem hell leuchtenden Donnerstag im Herbst, nachdem die Bücherflut trotz dieser Maßnahme immer weiter angeschwollen war, beschloß ich, mir eine Bibliothek der 100 Bücher zu eigen zu machen - was bedeutete, daß sich tatsächlich nie mehr als genau 100 Bücher bei mir befinden sollten. Am Anfang fiel das noch leicht, aber im Laufe der Zeit wurde es immer schwieriger, ein Buch zu finden, das ich aussortieren mochte, um ein verführerisches neues Werk einzufügen. Und tatsächlich geschah es immer seltener, daß ein Buch überhaupt in meinen Besitz wechselte und eines dieser 100 Bücher wurde - dieser Art der Selbstbeschränkung haftete zweifellos etwas manisches an, wie alle unsinnig erscheinenden Selbstbeschränkungen uns seltsam und unrichtig vorkommen, während zum Beispiel die Maßlosigkeit einer Bibliothek, die alle Bücher dieser Welt vereint wissen will, uns eher vertraut und richtig anmuten mag.

Aber ich empfand die Beschränkung als Befreiung vom Ballast der Materie - und sicherlich widmete ich mich so jedem einzelnen Werk sehr viel ausführlicher, als ich es getan hätte, wenn einfach Buch an Buch gereiht worden wäre. Jeder dieser 100 Bände war schon hundertemale durch meine Hände geglitten. Und jedesmal freute ich mich besonders, sie wiederzusehen, über den Rücken zu streichen, sie aufzublättern und zuzuhören, wie die Seiten zu mir sprachen - schon bald wußte ich alles über jedes einzelne Buch, wann und wo es erschienen war, warum der Autor genau dieses Buch zur Welt gebracht hatte, welches Geräusch die Seiten beim umblättern machen, sogar den Geruch jedes einzelnen erkannte ich bald mit geschlossenen Augen.

Bald nannte ich diese Bibliothek der 100 Bücher die "Enzyklopädie des Wesentlichen". Alle diese wunderbaren Bände waren zu einem großen Werk zusammengewachsen, das so sehr mit meiner Person verbunden war, mit meiner Wahrnehmung von mir als Mensch, daß ich jedesmal ein tiefes Gefühl empfand wenn ich mich mit ihr beschäftigte. Denn in der Zusammenkunft der Bücher lag für mich das Glück, das ich mein Leben lang gesucht hatte, und das immer da war, wie eine heimliche Geliebte, die man im Alter als Vertraute gewinnt.